Die Grenzen des Wachstums in der
Heidelberger Altstadt (11.01.10)

Lösungsansätze – Die Grenzen des Wachstums in der Heidelberger Altstadt


I. Polizei, Verwaltung, Gerichte / das „Herumdoktern“ am Symptom

1. Die „Spaßgesellschaft“ erdrückt die Touristenstädte / quo vadis Heidelberg?

Im Oktober 2009 erschien in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ ein Beitrag mit der Überschrift „Fauler Zauber, Venedig verkommt zur Fassade. 22 Millionen Touristen vertreiben die Einwohner aus ihrer Stadt… Hilferuf eines Einheimischen“ „Venedig-Marketing“ dürfte sein Ziel erreicht haben. In 10 Jahren verdreifachte sich die Zahl der Touristen.

Seit dem Spätsommer des vergangenen Jahres gibt es einen kollektiven Hilferuf in Heidelberg. Wir ersticken in Lärm, Dreck und Randale. Der Kessel stand seit langer Zeit unter Dampf, denn die „Spaßgesellschaft“ drängt auch die Einwohner der Altstadt an die Wand.

Lärm ist zweifellos subjektives Empfinden, aber es gibt einen gesellschaftlichen Konsens über das, was die Grenze der Zumutbarkeit ist, dokumentiert in Gesetzen und Verordnungen. Dank der Lärmmessungen engagierter Altstadtbewohner, deren Ergebnisse öffentlich einsehbar sind, wissen wir inzwischen, dass es in der Altstadt drei- bis viermal so laut ist wie gesetzlich erlaubt (erlaubt in Mischgebieten: 60 Dezibel am Tag und 45 Dezibel in der Nacht).


2. Sanktionen sind keine Dauerlösungen / Juristerei ist eine „Krücke“

Wenn sich Konflikte zuspitzen und Argumente versagen, rüstet man sich juristisch auf. Wo bleibt die Polizei, wo bleiben die städtischen Ordnungskräfte? Warum können bestimmte Wirte offenbar machen, was sie wollen? Nach welchen Kriterien vergibt wer Gaststättenkonzessionen, deren Regeln nicht eingehalten und überwacht werden? Warum dürfen die Anwohner die Regeln nicht einsehen, obwohl sie das Recht dazu haben.

Diesen „Krieg“ können wir miteinander führen, vermutlich wird er auch geführt, wenn im Frühjahr die Verhältnisse sich nicht drastisch ändern. Ordnungswidrigkeiten, Unterlassungsklagen (zivilrechtlich/ verwaltungsrechtlich), gaststättenrechtliche Sanktionen, einstweilige Verfügungen gegen Wirte, Eilverfahren gegen die Stadt. Juristen sind findig, wenn es darauf ankommt, aber ob sie die Probleme dauerhaft lösen, ist eine andere Frage. Ich persönlich fühle mich mit dem Schwerpunkt „Restriktion“ nicht wohl, nicht dauerhaft jedenfalls, denn mit ordnungsrechtlichen Maßnahmen laborieren wir am Symptom.


3. „Die Geister, die ich rief …“ / Heidelberg Marketing GmbH auf der Jagd nach Rekorden

Die Geister, die wir wieder loswerden wollen, hat die Stadtverwaltung zumindest lange Zeit gewähren lassen. Offenbar sind wir auf der Jagd nach Rekorden: Mehr Gaststätten, mehr Außenbewirtschaftung, mehr Alkohol, mehr Flat, mehr Events, mehr Märkte und längere Dauer der Märkte, mehr Touristen, 3,5 Millionen im Jahre 2003, neuer Rekord im Jahre 2007 (Heidelberg Marketing GmbH), mehr Kongresse, eine größere Stadthalle, einen Renaissancegarten am Schloss, natürlich mit mehr Besuchern, von denen niemand so genau wusste, wie sie hinaufkommen sollen und wieder hinunter… Wir schwimmen in einem Meer von „mehr“. Nur,Heidelberg ist kein bayrisches Bierzelt, „einer geht noch, einer geht noch rein“, das geht nicht gut.


Wir haben zwar einen Stadtentwicklungsplan und ein Tourismusleitbild,
das klingt ausgewogen, ernst genommen wird das nicht.

„Touristen fühlen sich dort wohl, wo Einheimische zuhause sind“,
mit diesem Leitsatz ist Heidelberg einmal angetreten.

Wir möchten damit ernst machen!


II. Neue Maßstäbe in der Stadtentwicklung / Brauchen wir Wachstum – welches und wohin?

1. Das Marketing erobert die Stadt / Der „Nutzungskonflikt“ auf einem schmalen Streifen am Neckar / Fokussierung auf die Altstadt

Wenn wir über „öffentliche Räume“ und deren Nutzung reden, über das, was wir verteilen wollen, hilft „Wikipedia“ weiter. Die Heidelberger Altstadt – so heißt es – ist ein keilförmiges Schwemmland unter dem Schloss. 1.900 Meter lang und durchschnittlich 450 Meter breit. Dort leben 11.000 Menschen, tummeln sich jährlich Millionen von Touristen, vergnügen sich Kneipengänger, Event-Besucher, Junggesellenabschiedstouristen, und viele wollen fröhlich sein und es so richtig „krachen lassen“.

Alle – auch die Bewohner anderer Stadtteile – sammeln sich auf der „Partymeile“, und wenn sie genug haben und ihre Ruhe haben wollen, gehen sie nach Hause.


2. Es ist etwas verrutscht in den vergangenen Jahren:

  • 38 % Zuwachs bei Gaststätten in 20 Jahren
  • Zuwachs bei der Außenbewirtschaftung in 5 Jahren (400 Stühle / 200 Tische)
  • 47 % Zuwachs bei der Nutzung öffentlicher Plätze (Events) in 5 Jahren

Aber das ist noch nicht alles:

Der räumliche Zuwachs gewerblicher Nutzung korrespondiert mit einem entsprechenden zeitlichen Zuwachs:

Seit dem Jahre 2000 wurden die Sperrzeiten verkürzt, 3.00 Uhr und 5.00 Uhr, wenn es nach dem Willen der Landesregierung geht (Änderung der Gaststättenverordnung zum 01.01.2010), in Heidelberg 2.00 Uhr und 3.00 Uhr. Mehr Räume (Straßen/Plätze) werden zeitlich immer länger genutzt.


Wachstum, Zuwachs ist offenbar eine Kategorie, die uns dominiert, die auch die städtische Gesellschaft Heidelberg Marketing GmbH zu neuen Rekorden treibt, auch wenn nur 1.900 mal 450 Meter Fläche zu vergeben sind. Verkraften soll das alles die Altstadt, denn wenn von der Vermarktung Heidelbergs die Rede ist, meinen alle stets die Altstadt. Die städtische Gesellschaft Heidelberg Marketing GmbH, die nach ihrem Geschäftszweck auf die Vermarktung ausgerichtet ist, wirbt für Heidelberg als „Stadt der Romantik“. Was bedeutet Romantik? Es bedeutet auch Individualität und Muße. Eine extensive Werbung darf solche Markenzeichen nicht ad absurdum führen, denn man kann auch nicht Millionen Besucher in aller Welt auf eine kleine Insel mit der Behauptung einladen, sie sei einsam.

Wem es unten zu eng wird, geht in die Luft, entweder aus Ärger über so viel Ignoranz und Planlosigkeit oder mit Heidelberg Marketing, denn was Manhattan und andere Großstädte können, können wir schon lang. Helikopterflüge über dem Neckartal und dem Schloss gehören selbstverständlich zum Event-Repertoire einer Stadt, die sich gerne mit Salzburg, Wien und London vergleicht. Marketing zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Auch zu Wasser? Wem das alles noch nicht reicht, der wird seit Sommer 2009 von Partybooten beschallt, die vor der Altstadtkulisse kreuzen und ohrenbetäubenden Lärm verursachen.


3. Heidelberg ist nicht Manhattan

„Heidelberg Du Feine“, vielleicht ist damit der dünne Streifen Schwemmland am Neckarufer gemeint. Da können wir nicht alles hineinpacken.

Ein schmalbürstiger, feinsinniger Jüngling eignet sich vielleicht für die schönen Künste. Vielleicht wird er ein glänzender Violinenspieler. Aber – er wird kein Zehnkämpfer, kein Bodybuilder, selbst wenn man versucht, alles aus ihm herauszuholen.

Die Altstadt von Heidelberg – möchte man manchen Vermarktungsstrategen sagen – ist nicht Manhattan. Wer Richtung Neckar läuft, steht nach spätestens 450 Metern im Wasser. Es gibt natürliche Grenzen.


4. Appell an die Nachdenklichkeit / Wenn die Illusion schöner ist als das Original / Die Grenzen des ökonomischen Nutzdenkens

Wer sich in Heidelberg diesem Wahnsinn widersetzt ist eine Spaßbremse, ein ergrauter Gestriger, der sogar den Architekten die Planungslust vermasselt, wie wir am Samstag in der RNZ (Stadthallenerweiterung: Jetzt reden mal die Experten“; RNZ vom 09.01.10) lesen konnten.

Wir Altstädter wollen keine Veränderung? Doch wir wollen! Wir sind nicht blauäugig, wir wollen Lebendigkeit und Offenheit, Raum für Kinder und Jugendliche, für Studentinnen und Studenten. Das heißt auch, dass wir eine „Halle 02“ nicht einfach ersatzlos zugunsten der Bahnstadt streichen können, ohne uns Gedanken über Alternativen zu machen, in der Konsequenz getreu dem Motto: Die Partymeile ist in der Altstadt. Wir leben von Heidelberg als Wissenschaftsstandort und Dienstleistungsmetropole, als Tourismusstadt. Aber wir wollen nicht vom Kommerz überrannt werden. Wir widersetzen uns dem Diktat von Lobbyisten und Interessenverbänden.

Lärm, Dreck und Randale, das sind Symptome der Planlosigkeit. Wenn nämlich versucht wird, auch den letzten Winkel auf 450 mal 1900 Meter für ökonomische Zwecke auszureizen. Beim nächsten Konzert von André Rieu sitzen wir dann vielleicht in Barockkostümen im Fenster, weil es der Meister so wünscht. Warum nicht, die Illusion von Heidelberg ist vielleicht noch schöner als das Original. The show must go on!


Wir appellieren an die, die nachdenklich sind, sich nicht jedem Zeitgeist unterwerfen wollen. Wir müssen nicht zwangsläufig die Sperrzeiten verkürzen, weil sich das Freizeitverhalten geändert hat. Wir gewährleisten ja auch keine Öffnungszeiten rund um die Uhr, weil der Alkoholkonsum zugenommen hat.

Shows, Events, Spektakel hier und da, Entertainment, Erlebnisgastronomie, Themenrestaurants, längere Öffnungszeiten, kürzere Sperrzeiten, Flatsaufen. Das Marketing setzt auf die Reizintensivierung, baut inszenierte Scheinwelten auf, und alle laufen wie die Schafe hinterher und missverstehen das als Fröhlichkeit.

Wo verlaufen in Heidelberg die Grenzen des ökonomischen Nutzdenkens? Das wollen wir von der Stadtverwaltung, vom Gemeinderat und von Heidelberg Marketing beantwortet wissen.

„Produktion und Rentabilität machen nicht den Sinn des menschlichen Lebens aus“.
Das klingt wie von der Kanzel, aber es steht im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 01.12.2009 zur Sonntagsruhe in Berlin (BVerfG,1 BvR 2857/07 vom 01.12.2009).


Wer Nachhilfeunterricht benötigt, wo die Grenzen für den Kommerz sein könnten, kann dort nachlesen.

Franz Dänekamp, 11.01.2010


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siehe auch:

> Deutscher Städtetag: Diskussionspapier - Strategien für den öffentlichen Raum
>  Die Welt: "Gäste bitte draussen bleiben" (01.12.09)

  1. gravatar

    # by Helmut FRosch - 15.01.10, 23:34

    Danke, das ist das Beste, was ich bisher zum Thema "Heidelberger Altstadt" gelesen habe. Aber Heidelberg ist kein Einzelfall: Das "ökonomische Nutzdenken" ist der Zeitgeist, ob es sich nun um die Altstädte in Heidelberg oder Venedig, den Regenwald in Indonesien oder andere ausbeutbare Güter handelt, sie werden benutzt, ausgelutscht und der traurige Rest bleibt ...

  2. gravatar

    # by Anonym - 18.01.10, 04:15

    Zwei interessante Links:

    http://grenzendeswachstums.de/

    http://de.wikipedia.org/wiki/World3